Badische Nachlese, Folge 2: Mehr als Mezzoforte
Was ist denn das?
Günther P. reibt sich erstaunt die Augen. Aber nur mit einer Hand. Die Andere bleibt vorschriftsmäßig am Lenker. Seit gut 13 Jahren steuert er nun Linienbusse durch Freiburg, aber so etwas hat er noch nie gesehen. Und das an einem Sonntag, wo das Fahrgastaufkommen eigentlich lau ist. Da stehen an der Haltestelle Hofackerstraße mindestens 40 Menschen, stilvoll gekleidet in blau-weiß-grau. Eine Großfamilie beim Sonntagsausflug? Einheimische sind es offensichtlich nicht. Denn die wüssten, dass man in Freiburg als Fußgänger besser nicht arglos auf dem Fahrradstreifen stehen bleibt (es sei denn, man hat einen lebensmüden Schub).
Wie dem auch sei, den kollegeninternen Wochenwettstreit um das am besten ausgelastete Fahrzeug hat Günther in dieser Woche wohl gewonnen. Sonntagsarbeit kann doch Spaß machen! Die Stimmung unter den Fahrgästen mit norddeutschem Dialekt ist so ausgelassen, dass irgendwann jemand zu singen beginnt und nach wenigen Sekunden der gesamte Bus in ein vielstimmiges Klangbad getaucht ist. Aha, offensichtlich ein Chor. Und jetzt fällt Günther wieder ein, dass er in den letzten Tagen öfter an den grün-gelben Plakaten hängengeblieben ist, die überall in der Stadt platziert sind. Deutscher Chorwettbewerb stand drauf. Auch die Presse hatte groß berichtet und von 5000 SängerInnen aus ganz Deutschland gesprochen, die „sein“ Freiburg besuchen werden. Offensichtlich ist es nun so weit. Günther lehnt sich zurück und genießt das Gratis-Konzert. Die Melodie des Songs hat er schon mal im Radio gehört, aber hier ist deutlich mehr Schwung drin! Kurz vor der technischen Fakultät verstummen die SängerInnen und mit einem zackigen „Cantaloop! Steigt! Aus!“ stolpert die Gruppe aus dem Fahrzeug und schlendert Richtung Messe.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon einiges erlebt: Ein frühes Frühstück, das uns vor die eine oder andere logistische Herausforderung stellte (die Teller waren weit hinter (!) den Brötchen platziert) sowie ein Einsingen und Umziehen in der Krypta. Wir haben die Ehre, heute unsere Kategorie G1 eröffnen zu dürfen und stellen uns vor dem Messeeingang für ein Erinnerungsfoto auf. Die Ersten entdecken Bekannte und Freunde aus anderen Chören, während eine Gruppe Radler klingelnd und freundlich grüßend an uns vorbeirauscht. (Nicht nur von dieser Radgemeinschaft sollten wir während der nächsten Tage noch tolle Töne hören!) Unser Auftrittssaal gefällt uns und ist – Gott sei Dank – um einiges größer als sein Vorgänger beim DCW in Weimar. Offensichtlich hat man erkannt, dass die populäre Chormusik sich immer stärker zum Publikumsmagneten entwickelt.
Wir absolvieren unsere Stell- und Soundcheckprobe (auch ohne Poppschutz) und nehmen uns dann Zeit für die wichtigen Dinge: Trinken. Grundieren. Trinken. Nicht Essen. (Um während des Auftritts nicht ins Verdauungstief zu fallen). Trinken. Aus der Sonne in den Schatten gehen („Damit ihr nicht austrocknet!“). Und natürlich Trinken. Und dann irgendwann: Aufstellung einnehmen. Zunächst unten im Foyer, dann vor dem Saal und schließlich auf der Bühne. Mit „Chöre“ eröffnen wir eine lange Gesangsparty – und sehen zu unserer Freude sowohl die Arrangeurin und auch einige weitere wichtige Menschen, die uns ans Herz gewachsen sind, im Publikum sitzen. Da singt es sich gleich leichter! Nach dem Auftritt dann der große Druckabfall und – draußen auf dem Vorplatz – der eine oder andere Befreiungsschrei. Wir sind zufrieden und haben alles gegeben!
Hui, der DCW hat „Chöre“ bereits auf Youtube platziert. Toll! Aber jetzt schnell wieder rein, umziehen und dann einfach nur tolle Chorklänge genießen! Am Besten genießt es sich natürlich mit Sitzplatz. Nicht alle haben das Glück und reihen sich an der Wand auf. Das Trinken stellen wir sofort ein- die Gefahr, zwischendurch die Sanitärabteilung aufsuchen zu müssen und dann „aus Gründen des Brandschutzes“ nicht wieder in den Saal eingelassen zu werden, ist einfach zu groß.
Was da von den weiteren Wettbewerbschören an Tönen und Rhythmus auf der Bühne abgeliefert wird, ist sensationell! Der Chorgesang ist eine aussterbende Spezies? An diesem Sonntag in der Messe ist davon nichts zu merken! Geradezu beseelt tanzen wir gegen 17 Uhr aus dem Saal. Bis zum Abendkonzert mit On Air und Vivid Voices ist noch Zeit. Ein Großteil des Chores verlangt nach Flüssigkeit und Spaghettieis und marschiert Richtung Innenstadt.
Sieben von uns bleiben noch für das anstehende Jurygespräch. Um es vorweg zu sagen: Diese zwölf Minuten hängen uns noch lange nach und trüben unseren eigentlich heiteren Freiburger Himmel deutlich ein. Und das sagen wir nicht, weil
wir nicht kritikfähig sind oder uns nur in lobenden Worten suhlen wollen. Wir können aber mit kritischen Worten deutlich mehr anfangen, wenn sie konstruktiv, sortiert und – vielleicht sind wir da etwas altmodisch – wertschätzend formuliert werden. Unser Erkenntnisgewinn liegt höchstens im Bereich Mezzopiano. Es ist uns nur ein kleiner Trost, dass die weiteren Chöre, die am Sonntag ihr Feedback erhalten, offensichtlich ebenso haben „einstecken müssen“. Ziemlich geplättet schleichen wir durch die heiße Abendsonne und gönnen uns Seelenfutter im Schwarzen Kater. Mit Maultaschen und Käsespätzle im Bauch geht’s einem gleich etwas besser. Und das tolle Konzert mit Vivid Voices lassen wir uns von diesem Dämpfer auch nicht nehmen! Denn genau dafür sind wir hier: Musik, Begegnung und Inspiration!
Inspiriert sind am späten Sonntagabend offensichtlich einige von uns, denn am Montag entdecken wir an den Hoteltüren folgenden freundlichen Hinweis. Wir entschuldigen uns in aller Form bei den Gästen, die wir um den wohlverdienten Schlaf gebracht haben – können uns aber gleichzeitig bei genauer Betrachtung eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen.
Schließlich steht da „…lautstark gesungen…“.